MRG-Team besteht Wesermarathon
135 Kilometer durchs Weserbergland
Die Schönheit des Weserberglands relativiert sich, wenn Dein Hintern brennt. Nach 100 Ruderkilometern auf der Weser sieht ein malerisch grüner Hügel aus wie der andere malerisch grüne Hügel, eine Kuh wie die andere – und das 73. Schaf ist dann auch nicht mehr irgendwie süß.
Wir rudern den Wesermarathon; eine Veranstaltung, die den Begriff „Marathon“ nur als euphemistische Irreführung im Namen führt; vom klassischen Marathon hat die zu bewältigende Strecke nichts – weder die Kurzstrecke, die nach 53 Kilometern endet, noch die mittlere, nach 80 Kilometern – und schon gar nicht die lange Strecke, bei der man die Skulls nach 135 Kilometern aus der Dolle holt.
Es bedarf einer gerüttelt Portion Wahnsinn, so eine Strecke an einem Tag rudern zu wollen, auch wenn die Weser ein ziemlich glatter Fluss mit guter Strömung ist; wer schon mal 30 Kilometer am Stück gerudert ist, kennt die Schmerzen, die sich in Rücken und Po ausbreiten. Nun gut: Wir haben ein bisschen trainiert, wir wissen, was auf uns zukommt, jammern ist also überflüssig – wer jammert auch schon gerne über sich selbst.
Aber nach 100 Kilometern wird’s echt hart (Du bist Mitglied der MRG? Dann klick hier, gib Dein Passwort ein und lies’ die ganze Geschichte).
Am 5. Mai haben wir die „Loreley“ auf den Hänger gepackt und sind nach Hannoversch-Münden gefahren, eine dieser Städte, die man vor allem aus den Verkehrsnachrichten kennt – „Hannoversch-Münden – Lutterberg“, beliebte Staustrecke in SWR3- und WDR2-Land. Dem Städtchen wird das nicht gerecht – viel gut erhaltenes Fachwerk rahmt die Altstadt, Wanderwege umrahmen die Stadt – sie wirbt für sich als „eine der schönstgelegenen Städte“, als „Erlebnisregion“ für Radfahrer und Wanderer, als Zentrum „regionaler Kulinarik“ und als Location für „Schöner Shoppen, als wäre die Fachwerk-Altstadt eine Art Einkaufszentrum mit kostenlosen Parkplätzen drumrum.
Um 6.09 Uhr am nächsten Morgen sitzen wir im Boot, das Hotel hat extra für die Wesermarathonis das Frühstücksbuffet schon um 4.45 Uhr eröffnet. Es ist kalt um diese Uhrzeit, sechs, sieben Grad, die Sonne ist noch nicht aufgegangen.
Morgennebel liegt über der Weser. Doris steuert uns die ersten Kilometer durch einen Parcours aus gleichzeitig gestarteten Paddlern – 1.400 Teilnehmer sind gemeldet – die sich aus dem von ersten Sonnenstrahlen in verschiedenen Grau- und Blaustufen leuchtenden Nebelfeldern schälen; das sieht aus, wie auf den Filmplakaten der Pirates-of-Caribbean-Serie, wenn die Zombie-Piraten aus dem Dunst auf Dich zukommen.
135 Kilometer also. Die Weser hat in Hann.-Münden ihren Ursprung. Von da an wird jeder Weserkilometer mit Tafel am Ufer angezeigt – 135 Schilder liegen also vor uns. Anfangs ist das noch ganz lustig, nach einer Stunde haben wir schon 14 Schilder hinter uns, Wow, bei dieser Durchschnittsgeschwindigkeit bräuchten wir keine zehn Stunden im Boot. Bei Schild 80 aber haben wir nicht mehr „schon 80 hinter uns“, sondern „immer noch 55 vor uns“. Wir haben vorher abgemacht, solche Verlautbarungen im Boot zu unterlassen. Irgendwann rudert jeder in seinem eigenen Tunnel und möchte nicht unbedingt auch noch mit quälenden Distanzen belästigt werden.
Trotz der individuellen Tunnels läuft das Boot gut. Es gibt Wackler, Hänger – je länger der Tag, desto mehr – aber hier macht sich unser Training bemerkbar. Jeden Dienstag und jeden Freitag treffen wir uns und trainieren speziell Technik, Ausdauer, in den zurückliegenden Monaten haben wir Sitzfleisch trainiert – zwei- dreimal die Woche zur Schleuse Kostheim und zurück. Ohne dieses Training hätten die Hintern schon bei Schild „40“ gebrannt.
Jeden Dienstag (18.00 Uhr) und jeden Freitag (18.00 Uhr) trifft sich die Trainingsgruppe der MRG. Meist unter professioneller Anleitung üben wir technische Finessen, trainieren Ausdauer für Langstrecken und tanken Kraft für die Sprintregatten, an denen MRGler regelmäßig teilnehmen.
Das Training steht jedem Vereinsmitglied offen; allerdings sollten von den durchschnittlich acht Terminen pro Monat mindestens fünf besucht werden, sonst kann man im Boot bald nicht mehr mithalten und braucht, was bei diesen Trainings eher die Ausnahme ist: eine Trinkpause.
Und ohne dieses Training hätten wir nicht alle dasselbe Ruderverständnis; gäbe es das nicht, würde das Boot beim Tunnelrudern auseinanderfallen, weil jeder Ruderer nur vor sich hin paddeln würde.
Bei Kilometer 67,7 legen wir in Höxter an – ohne es laut zu sagen: Vor 200 Metern haben wir die Mitte der 135 Kilometer überrudert, uff – wir haben viermal die Plätze durchgewechselt, nach Doris übernahm Christoph O. das Steuer, dann Christoph H., dann Kevin, Jürgen schließlich steuerte uns nach Höxter.
Solche Steuermanns-Wechsel geben Gelegenheit, uns mal zu strecken – wenn es gut läuft, an einem Steg, aber die sind bei so einem Event meistens belegt. Aber auch im Boot können wir uns kurz dehnen, während zwei Ruderer übereinander hinweg klettern, um den jeweils neuen Platz zu erreichen; bei sowas ist auch ein gesteuerter Gig-Vierer wie die Loreley eine wacklige Angelegenheit.
Es ist Nachmittag geworden. Wir schrubben stumm unsere Kilometer. Längst sind es nicht mehr nur wenige Grad über Null. Die Sonne scheint, kein Wölkchen, Lichtschutzfaktoren zwischen 30 und 50 glänzen von nackten Gesichtern und Oberarmen, auf der (mittlerweile) Oberweser ist es merklich leerer geworden, die meisten Kanuten und Stand-Up-Paddler sind in Beverungen (53 Kilometer) vom Wasser gegangen. Übrig geblieben ist eine große Familie aus Ruderern und Paddlern, die sich immer wieder gegenseitig überholen, wenn einer Pause gemacht hat – die Mannschaft des Auslegerbootes „Loki“ aus Rabow im Wendland hat sogar einen Grill an Bord, aber auch diese Jungs paddeln mittlerweile matt die Weser runter.
Uns macht der Wind zu schaffen, der seit dem frühen Nachmittag bläst und das Boot bremst. Der Wind und unsere nachlassenden Kräfte kosten uns im Schnitt 2 Kilometer jede Stunde – heißt: haben wir die ersten 67,5 Kilometer (mit den kurzen Wechselpausen) in 5:15 Stunden geschafft, brauchen wir am Nachmittag für dasselbe Pensum eine Stunde länger. Das ist psychologisch nicht einfach: Wir sind matt, jedem tut irgendwas weh – hier der Rücken, da die Schulter, dort der Hintern – das macht uns dünnhäutig, wir wissen: Wir können nichts ändern – rudern wir jetzt langsamer, ändern wir jetzt die Schlagfrequenz, fallen wir aus unserem Tunnel, müssen nach acht Stunden Ruderzeit zusätzliche Konzentration in den neuen Rhythmus investieren, was zu Lasten eben dieses Rhythmus’ geht. Und das Wichtigste: Würden wir langsamer rudern, bräuchten wir noch länger bis ins Ziel, ohne, dass die Beschwerden dadurch geringer würden.
Arsch hu, Zäng ussenander, hieß mal das Motto eines Protestkonzerts Anfang der 80er Jahre in Bonn unter Leitung von Wolfgang Niedeckens BAP – im Hochdeutschen etwa: aufstehen und protestieren. Auf der Weser heute gilt für uns das Gegenteil: Arsch runger, Zäng zseamme – also etwa: sitzen bleiben, ruhig bleiben.
Ja, der Wesermarathon ist nichts für Prinzessinnen und Weicheier. Er ist anstrengend und erfordert Disziplin und Mannschaftsgeist – und vorher jede Menge Trainingskilometer, die Dich so gut wie eben möglich vorbereiten. Aber es ist eben auch mal was anderes, als immer nur auf der Wachsbleiche vor unserer Haustür hin und her zu rudern. „Das Weserbergland sieht überall aus, wie das Weserbergland“, sagt am Abend jemand, was das Gefühl bei so einer Mammuttour gut zusammenfasst: Auf den ersten 80 Kilometern kann man sich kaum satt sehen, so schön ist die Landschaft, die wir, privilegiert, vom Wasser aus sehen. Dann wachsen unsere ruderbedingten Beschwerden und da wäre es dann schon schön, wenn die Landschaft uns mit neuen Eindrücken davon ablenken würde. Tut sie aber nicht – aber dass es dann nicht zur Abwechslung eine hässliche Landschaft wird, dafür kann ja das Weserbergland nichts.
Im Übrigen: So schlimm, wie es sich vielleicht anhört, war es dann gar nicht. Als wir kurz nach sieben Uhr am Abend in Hameln wieder an Land stehen, sind wir alle erst mal nur glücklich, es geschafft zu haben, die eine oder der andere raunt auch was von „ja, hat schon ein bisschen weh getan; wir brauchen andere Sitzkissen“.
Aber zwei Stunden später freuten sich die meisten schon wieder auf die nächste Gigatour. Nur der Autor nicht. Der wollte zwei Stunden später einfach nur ins Bett.
Text: Christoph Hartung / Fotos: Anne Werner, Christoph Hartung, Reinhard Dörr