Die Wanderfahrten bei der MRG
Jede Wanderfahrt ist anders, hat ihre eigenen Gesetze, und hier pauschal etwas über diese jedesmal aufs Neue einzigartigen Ereignisse zu schreiben, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Ein bisschen was gibt es aber doch pauschal zu sagen zu unseren Wanderfahrten.
Blauäugig habe ich mich auf eine Wanderfahrt angemeldet, wähnte mich in sicheren Händen mit den alten Ruderhasen Ulrike J., Doris W., Christoph O., Jürgen W., Miri L., Chris S.. Na klar, die würden mich an die Hand nehmen, mir alles in Ruhe erklären, sich liebevoll um mich Anfängerin kümmern. Doch weit gefehlt. Was die Ruderfamilie der MRG auszeichnet, ist, dass man dazugehört, auch wenn man irgendwie noch nicht alles verstanden hat.
Warum viel erklären, learning by doing war angesagt. Mehrmals sprach ich während der Wanderfahrt leise zu mir selbst oder auch mal laut zu den anderen: “Oh je, das habe ich nicht gewusst.”
So wuchs die Idee in meinem Kopf, eine Art Glossar für Anfänger zu verfassen, nicht über das Rudern im Allgemeinen, sondern die komplexe und kulturell sehr interessante Variante der gemeinsamen Ruderwanderfahrt.
A = Abfahrt
War geplant für neun Uhr morgens. Als notorische Zuspätkommerin (ich gelobe Besserung!), wollte ich auf keinen Fall zu spät sein und stand frierend um 8.30 Uhr vor dem ausgestorbenen Bootshaus. “Abfahrt neun Uhr” bedeutete “Neun Uhr Treffpunkt”. An dieser Stelle möchte ich jedoch allen Vereinsmitgliedern die romantische Stimmung eines nebligen Herbstmorgens kurz nach Sonnenaufgang am Altrheinarm empfehlen. Man kann alle halbgedachten Gedanken der Woche in Ruhe zu Ende denken und dabei den Blick schweifen lassen. Balsam für die Seele.
B = Beladen
Ein zeitraubender Umstand, der die Abfahrt (s. Buchstabe A) noch weiter nach hinten verschiebt: Das Boot oder die Boote auf den Anhänger, den Anhänger an die Minna (was – wie mir versichert wurde – im Normalfall auch direkt hält) und dann alle Taschen und Berge von Proviant in den Kofferraum, Fußraum, Zwischenräume der Bankreihen und so weiter. Eine Biertischgarnitur (oder mehrere). Kaum zu glauben, was für eine solch kurze Fahrt benötigt wird, es ist quasi die materielle Aufwertung der Wanderfahrt, die dadurch umso wertvoller wird (und auch ein wenig anstrengender – wozu noch Konditionstraining? Das gelegentliche Beladen der Minna tut’s doch auch).
C = Chillen
Geht auch auf einer Wanderfahrt. Sieht dann so aus: Der Bugmann hat Pech, aber immerhin einen warmen Kopf auf seinen Beinen. Die anderer Ruderer lehnen sich jeweils zurück auf die muskulösen Beine ihres Hintermannes. Sehr gemütlich! Wenn dazu dann noch die Sonne scheint, kann man glatt dabei einschlafen.
D = Durst
Das einzige Fremdwort während der Fahrt, dessen Bedeutung sich mir bis heute nicht erschlossen hat.
E = Ersatzklamotten
Gehören in einen farbenfrohen, wasserdichten Neoprensack. Nichtsahnend hatte ich mir von einer Freundin, die paddelt, eine kleine wasserdichte Tonne ausgeliehen. Das geht gar nicht, bot aber immerhin Anlass zu manch witziger Bemerkung (Natürlich habe ich sofort den Entschluss gefasst, beim Outdoor-Laden eine solche Tasche zu kaufen – ich will doch nicht aussehen wie eine Paddlerin!!!).
F = Fahrt
Auf der Hinfahrt wird geredet: über Politik, Familie, das Wetter und so weiter; es wird Zeitung gelesen, Kaffee getrunken, ein zweites Frühstück eingenommen und noch mehr geredet.
Auf der Rückfahrt wird nicht mehr geredet.
Auf der Rückfahrt wird geschlafen oder dröge aus dem Fenster geschaut (mit Ausnahme des Fahrers, vielen Dank, Ulrike, an dieser Stelle). Als ich nichtsahnend auf der Rückfahrt ein mir spannend erscheinendes Thema anschnitt, wurde freundlich, doch bestimmt dazu geschwiegen.
G = Gruppengefühl
Eine Wanderfahrt ist ein Erlebnis der besonderen Art, das ungemein verbindet. Den Tag und die Nacht miteinander zu verbringen, dem Wetter und der zuweilen kläglichen Kondition zu trotzen, anschließend die letzten Proviantreste zu verteilen und zu Hause an einem solchen Wurstzipfel kauend sich der gemeinsamen Fahrt zu erinnern, ist einfach schön.
H = Home sweet Home
Nachdem wir in strömendem Regen die Minna entladen, das Boot gereinigt und verstaut und alle Klamotten in die diversen Autos verteilt hatten, fuhr ich heim und fiel direkt in die heiße Badewanne. Dort stellte sich ein Gefühl wohliger Zufriedenheit ein.
I = Initiation
Eine Wanderfahrt ist letztendlich ein Initiationsritus. Der Anfänger soll schauen, wie er sie überlebt. Er lernt, indem er nachahmt und genau beobachtet, möglichst selten Zwischenfragen stellt und so tut, als hätte er nie etwas anderes getan. Tatsächlich stellt sich dann nach einiger Zeit so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl ein, weil gemeinsam eine Strecke bezwungen wird.
J = Jugendherberge
Angeblich die luxuriöse Variante der Beherbergung während einer Ruderwanderfahrt. Auf jeden Fall sehr unterhaltsam und kuschelig, weckt Erinnerungen an frühere Klassenfahrten, man fühlt sich jung und frei. Herrlich!
K = Kissen
Diese viereckige Schaumstoffunterlage für die Schonung des Allerwertesten besaß ich nicht, fiel auch keinem auf bis zu dem Moment am späten Nachmittag, an dem ich stöhnend mitteilte, dass ich kaum mehr sitzen könne. Die Anschaffung eines solchen Polsters ist allen Anfängern wärmstens angeraten.
L = Landdienst
Auch “Schleusenbecircer”, “Buffetmamsell” oder “Späher” genannt. Die dazu Benannten sind mit wichtigen Aufgaben betraut: Sie fahren möglichst parallel zum Fluss, sichten gute Anlegeplätze, bauen dort das Essen auf und empfangen die Ruderer mit Gesängen und Blumen.
M = Minna
Unser fahrbarer Untersatz und nicht ein unbekanntes Vereinsmitglied. Steht sicher an erster Stelle auf der Kilometerliste, was ihr alle gönnen, da alle davon profitieren.
N = Nachtleben
Möglich, dass ich mit den feierfreudigsten Mitruderern unterwegs war, aber selbst, als in Wertheim die Bürgersteige hochgeklappt wurden, fanden wir den Weg zu einer gemütlichen Kneipe.
O = Ohropax
(s. Buchstabe J) Allerdings machten wir die interessante Feststellung, dass nicht die Jugendlichen, wie man hier vermuten könnte, die Lautesten waren, sondern eine Gruppe feierfreudiger Altkonfirmanden. Also, beim Packen nicht vergessen, Ohoropax einzustecken.
P = Pause
(s. Buchstabe L) Es geht nichts über eine gepflegte Mahlzeit unter freiem Himmel, liebevoll vom Landdienst auf- und später wieder abgedeckt. Hier gilt es, der Versuchung zu widerstehen, nach dem Essen mit ausgestreckten Beinen unter einem Baum zu entspannen. Um dies zu vermeiden, eignet sich eine Wanderfahrt im Herbst und eine Pause bei Windstärke 10 (wir mussten sogar die Fleischwurstringe festhalten).
Q = Quatschen
Geht auch beim Rudern, in den Pausen, beim abendlichen Ausgang. Kommunikation ist neben dem Rudern das Schönste an der Wanderfahrt.
R = Rotwein
Ein Becherchen davon muss getrunken werden, wenn die Kilometerzahl am Flussufer eine…
…S = Schnapszahl ist.
Aber hier wird auf höchstem Niveau gerechnet. Denn dass 33 eine Schnapszahl ist, weiß schließlich jeder Grundschüler. Wer aber kennt die Königin der Schnapszahlen, die 132? Natürlich nur die Ruderer. Schließlich ergibt 11×11+11 diese Zahl, also hoch die…
…T = Tassen
aus Metall, die an den wasserfesten Taschen baumeln.
U = Uebelkeit
Haribo-Vergiftung kann nur mit Rotwein (s. Buchstabe R) behandelt werden. Nachteil: Es wird einem ziemlich übel davon.
V = Vegetarier
Gibt es nicht unter den Ruderern, deshalb auch die Frikadellen, Fleischwurstringe und Teewurstrollen, die mittags serviert werden. So viel ist klar: Eine Ruderwanderfahrt ist keine Diät, eher sollte man die Waage anschließend eine Woche lang verstecken.
W = Wetter
Auch ein Fremdwort (s. auch Buchstabe D). Gerudert wird bei jedem Wetter, notfalls halt etwas kürzer. Allerdings ist der Draht zu Petrus phänomenal. Nach einer Abfahrt im strömenden Regen wartete feinstes Sonnenwetter und verwöhnte uns.
X = eXtra
Süßigkeiten sollte jeder noch dabei haben, falls die Paletten Süßwaren, die in das Boot getan werden, zur Neige gehen sollten. Der kollektive Genuss von zu viel Süßigkeiten führt auch zu einer kleinen Zeitreise (s. Buchstabe J).
Y = Yachten
Die natürlichen Feinde der Ruderer. Finden sich nicht ganz so gehäuft auf dem Main wie auf dem Rhein, liegt wohl daran, dass es ein eher volkstümliches und nicht so mondänes Gewässer ist. Das ist mit Sicherheit einer der Vorteile von Wanderfahrten: fremde Flüsse kennenlernen, wie ein Wikinger die Welt vom Wasser aus zu betrachten, vorbeiradelnden Kindern die Grundregeln des Ruderns zu erklären und sich treiben lassen. Eine Bootsfahrt erweitert den Horizont!
Z = zu Ende
Die Fahrt, das Glossar, meine gesammelten Erinnerungen, der Artikel, Eure Lust, das Geschreibsel zu lesen.
Soweit der Text unserer Ruderkollegin Jona. Jona ist keine gelernte Autorin. Jona schreibt aber gerne. Das ist gut. Denn nach jeder unserer Wanderfahrten, Sommerfeten, Wanderungen, Regatten und dergleichen darf jemand aus der Truppe zur Tastatur greifen und erzählen, was so passiert ist unterwegs.